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Sind Hörbehinderte misstrauischer als andere Menschen?

Lisa Guldenschuh, Eglisau

Es gibt viele Vor- und andere Urteile über Hörbehinderte, die immer wieder zur Sprache kommen. Und die meisten gründen auf Informationsmangel oder Missverständnissen.

Noch-gut-hörende Partnerinnen, Familienmitglieder und Mitarbeiterinnen von Hörgeschädigten erfahren immer wieder, dass Hörbehinderte oft misstrauisch reagieren, wenn sie Gesprochenes nicht mitkriegen. Diese fragen dann nach: «Was hast du gesagt? Habt ihr über mich gesprochen?» usw. Und die Interpretation dieses Nachfragens ist dann oft: «Hörbehinderte meinen immer, man spreche schlecht über sie!Sie sind furchtbar misstrauisch und argwöhnisch!» Argwöhnisch heisst wörtlich: Sie vermuten (wähnen) Arges hinter allem. Hörbehinderte meinen immer, man spreche schlecht über sie!

Meiner Ansicht nach ist dieser Argwohn zwar eine Folge der Hörbehinderung, aber nicht in dem Sinne, dass Schwerhörigkeit generell misstrauisch macht, d. h. den Charakter verändert. Vielmehr liegt der Verlust an Vertrauen daran, dass eine wichtige Funktion des Gehörs verloren geht.

Hörbehinderte müssen immer «auf Draht» sein, um ja kein Warnsignal zu verpassen. Das Gehör ist unser Warnsystem: Wir nehmen Lärm wahr, dessen Quelle wir noch nicht kennen oder sehen können. Das Ohr warnt uns vor noch entfernten möglichen Gefahren (Sirenen, Knall, herannahende Fahrzeuge, früher einmal wilde Tiere, Donnergrollen usw.).

Auch wenn ich völlig absorbiert bin von einer Beschäftigung, kann ich mich darauf verlassen, dass mir mein Gehör Vorfälle in meiner Umwelt meldet und mein Gehirn «unwichtig bzw.harmlos» und «wichtig bzw. gefährlich» unterscheiden kann und mich aus meiner Versunkenheit aufweckt.

Die Welt kommt über das Gehör zu mir, ohne dass ich mich dafür besonders anstrengen muss. Hörgeschädigte müssen sich die Welt über die Augen zu Eigen machen. Ein geschädigtes Gehör verliert diese unbewusste Funktion. Hörbehinderte müssen immer «auf Draht» sein, um ja kein Warnsignal zu verpassen. Die Alarmanlage funktioniert nicht mehr, also müssen sie ununterbrochen ihre Umwelt mit den anderen Sinnen kontrollieren, um nicht in Gefahr zu geraten. Sie können ihrem Warnsystem nicht mehr trauen, sie können sich selbst nicht mehr so weit trauen, dass sie wichtige Ereignisse automatisch mitbekommen.

Sie müssen die Welt aktiv und mit viel Anstrengung zu sich holen. Neurologisch heisst das, dass Hörgeschädigte in einem ständigen Spannungszustand sind. Ihre ununterbrochene Aufmerksamkeit auf alles, was um sie herum vorgeht, ist gefordert. Dies führt zu grossem Dauerstress und zu schneller Ermüdung, was die Aufmerksamkeit wieder herabsetzt und noch unsicherer macht. So entsteht ein Teufelskreis.

Das Misstrauen ist also primär nicht gegen die Umwelt gerichtet, sondern darin begründet, dass Hörbehinderte nicht mehr entspannt die Dinge auf sich zukommen lassen können. Hörgeschädigte sind vom spontanen Gespräch und Lachen ausgeschlossen. Erst als Folge dieses Misstrauens gegenüber dem unvollständig funktionierenden Warnsystem, d. h. gegenüber sich selbst, nehmen sie nichts mehr für selbstverständlich und misstrauen allem, was sie noch nicht ganz verstanden haben. Die Antwort der hörenden Welt: «Es war nichts Wichtiges! » verstärkt obwohl sie gut gemeint ist und wahrscheinlich auch der Wahrheit entspricht (ein grosser Teil des Gesprochenen ist unwichtig!) ? noch den Eindruck, dass die hörende Welt Hörgeschädigte nicht für voll nimmt.

Jeder Mensch will selbst entscheiden, was für ihn persönlich von Bedeutung ist. In engen Beziehungen kann der noch?gut?hörende Partner durchaus als Filter funktionieren. Das führt aber zeitweise zu einer verstärkten Abhängigkeit, ist also nur in einem absoluten Vertrauensverhältnis möglich.

In diesem Sinn haben Hörgeschädigte allen Grund, misstrauisch zu sein. Die Welt kommt nicht mehr über die Ohren zu ihnen, sie müssen sie sich über die Augen (visuelle Kontrolle, Absehen, Schrift usw.) zu Eigen machen. Dass sich das auch in Situationen äussert, wo Noch-gut-Hörende gerade so richtig entspannt sind, z. B. beim Erzählen von Witzen, die der Hörgeschädigte nicht versteht und das Lachen eventuell als Auslachen interpretiert, ist für alle Beteiligten tragisch. Hörgeschädigte sind vom spontanen Gespräch und Lachen ausgeschlossen, und Noch-gut-Hörende werden durch das Nachfragen des hörbehinderten Gegenübers unsanft aus ihrem entspannten Zustand in die reale Welt der Verständigungsprobleme zurückgeholt.

Schlussfolgerung: Schwerhörige sind nicht misstrauischer gegenüber ihrer Umwelt als andere Leute. Sie sind aber in einem ständigen Zustand der Anspannung und müssen alles verstehen, um Wichtiges von Nebensächlichem unterscheiden zu können. Die hörende Umwelt interpretiert diese notwendige Kontrolle als Misstrauen. Das Problem liegt also eigentlich weder in der Hörbehinderung noch im Verhalten der Betroffenen, sondern in der Beurteilung dieses Verhaltens von Seiten der hörenden Welt!